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Räumung des Flüchtlingslagers Idomeni Nichts außer einem gleichgültigen Himmel

Die Flüchtlinge sind an allem schuld - so läuft die Diskussion. Sogar an den Missständen in einem Camp, in dem sie nicht sein wollten und nichts hatten. Was also war dieses Camp? Ein Nachruf.
Räumung des Camps in Idomeni

Räumung des Camps in Idomeni

Foto: Georgi Licovski/ dpa

Müde, sagt er, endlos müde sei er. Er ist vielleicht Mitte 20 und schaut aus wie Mitte 40. Vor fünf Monaten ist Muammar in Libyen aufgebrochen. Nun ist er am Ende seiner Reise angekommen. In Griechenland, mitten in Europa, am Rande der Welt.

Er ist mit seinen drei Freunden unterwegs. Gemeinsam haben sie noch einmal versucht, die Grenze zu Mazedonien zu überwinden. Sie haben im Wald geschlafen, sie sind weit gelaufen. Sie sind gescheitert.

Sie sind auf dem Weg zurück ins Camp. Aber das Camp gibt es nicht mehr.

Auf der Brücke über den Fluss wacht die Polizei. Hubschrauber kreisen über Idomeni. Muammar und seine Freunde laufen an den Schienen entlang. In der Ferne sind die Berge, in der Ferne ist die Sicherheit.

Sie sind die Letzten. Sie sind die Vergessenen. Die, die jetzt noch hier sind, werden weggeräumt, weggebracht. Sie stören. Der Strom ist verebbt. Weg mit ihnen.

Am Abend zuvor war es ruhig im Camp von Idomeni, wo einige Tausend Flüchtlinge warteten, es war unklar, auf was. Die Luft war mild, das Licht war schön. Rauch stieg auf. Es stank nicht allzu sehr.

Was also war dieses Camp? Denn dies hier ist ein Nachruf. Ein Nachruf auf eine Hoffnung, auf eine Realität, auf die Flucht, die möglich war.

Europa hat sich anders entschieden. Europa hat denen nachgegeben, die gesagt haben: Es geht nicht mehr. Europa hat sich selbst verraten, an diesem Ort, Europa hat Menschen wie Muammar verraten.

Ich war mit meinem Freund Igor gekommen, um zu sehen, wie es ist, wie er sich anfühlt, dieser Verrat. Es sollte erst einmal der Versuch sein zu verstehen.

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Räumung der Zeltstadt: Das Ende von Idomeni

Foto: YANNIS KOLESIDIS/ AFP

Aber dann kam die Nachricht, dass die griechische Polizei das Lager räumen wollte. Damit endet offiziell und symbolisch die humanitäre Phase der Flüchtlingszeit - nun übernehmen die Sicherheitsapparate.

Wir wussten noch nichts davon, als wir im Camp waren. Wir sahen viele Kinder, wir sahen Familien, wir sahen die Händler, die Zigaretten und Gemüse verkauften. Wir sprachen mit den Helfern, die Chai ausschenkten und manchmal ein Kind an die Hand nahmen.

Wir sprachen darüber, was dieses Camp bedeutet und warum es manche gibt, die die, die hier helfen, verlachen. Im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" gab es so einen Text, der avanciert sein sollte, aber nur reaktionär war.

"Abgründe des guten Willens"

Die Autorin fand in Idomeni eine selbstsüchtige westliche Jugend am Werk, die aus Narzissmus und Langeweile hierhergekommen sei, um ihre eigene Leere zu überspielen. "Abgründe des guten Willens", so nannte sie das.

Mich machte das sprachlos angesichts dessen, was ich sah, mich machte das auch wütend. Wie kam es, dass es jemand offensichtlich wichtiger fand, das eigene Ressentiment über die Helferhaltung zu ventilieren, als das reale Leid derer zu beschreiben, die hier warteten, warteten, warteten?

Was also sind die Geschichten, die von hier erzählt werden, was sind die Geschichten, die über Flüchtlinge geschrieben werden? Und was sollen sie?

Gibt es Drogen hier im Camp, wie auf SPIEGEL ONLINE zu lesen war? Ja, vielleicht. Aber was bedeutet das dann? Wessen Schuld, wessen Problem ist es? Ist es ein Zeichen für die Verkommenheit derer, die hier sind? Oder ist es ein Zeichen für die Verkommenheit derer, die sie hier festhalten?

Videobericht von der Räumung des Camps

SPIEGEL ONLINE

Aber so scheint der Gang der Diskussion zu sein: Die Flüchtlinge sind an allem schuld, nun sogar auch an den Missständen in einem Camp, in dem sie nicht sein wollen, in dem die Langeweile sie quält, in dem sie nichts haben außer einem gleichgültigen Himmel über sich.

Er wäre lieber im Krieg gestorben, als hier zu leben, sagte einen Tag später Bashir, der aus Aleppo über die Türkei auf einem Boot voller Wasser gekommen war und nun in einer schmutzigen Fabrikhalle stand, am Rande von Thessaloniki, etwa eine Stunde von Idomeni entfernt.

Wir waren den ersten Bussen gefolgt, die Idomeni in der Früh verlassen hatten, "Crazy Holidays" und "Anonymous Travel" stand auf den Bussen, die Menschen winkten.

Es seien vor allem Kurden aus Syrien, die in ein eigenes Lager gebracht werden sollten, hatte es geheißen. Die Straßen waren abgesperrt. Kein Zutritt für Journalisten. Ein Vakuum der Pressefreiheit. Die Polizei war aggressiv.

Als wir kurz vor dem Lager, in das die Flüchtlinge gebracht werden sollten, von der Hauptstraße abbogen, stoppten uns zwei Polizisten auf Motorrädern.

Es war offensichtlich, dass sie uns daran hindern wollten, den Bussen weiter zu folgen. Sie durchsuchten unser Gepäck. Nach einer Weile ließen sie uns gehen.

Wir fanden die Busse. Die Flüchtlinge waren inzwischen aus- und wieder eingestiegen. Sie weigerten sich, in diese Hallen inmitten von Feldern zu ziehen, weit weg von jedem Supermarkt, ohne Perspektive, Lagerhallen für gescheiterte Leben.

Menschen werden verfrachtet

Die Helfer, die schon vorgefahren waren, hatten die Hallen etwas sauber gemacht, sie hatten aus Gabelstaplerpaletten Bänke gebaut, einer von ihnen, Claudio, der seinen Job als Sozialarbeiter in der Schweiz gekündigt hatte und seit zehn Tagen hier war, in diesem Militärcamp, versuchte, die Flüchtlinge mit einem freundlichen Gesicht zu begrüßen.

Ohne Menschen wie Claudio wäre das, was hier passiert, eine Katastrophe. Mit Menschen wie Claudio ist das, was hier passiert, eine Schande.

Menschen werden verfrachtet, Menschen werden ihrer Würde beraubt, Menschen werden zu Dingen gemacht.

Wir müssen diese Bilder aushalten, hatte Innenminister Thomas de Maizière gesagt. Müssen wir das? Warum? Auf welcher Grundlage erfolgte dieser Satz?

Um was zu tun: Das harte Regime gegen die Flüchtlinge durchzusetzen? Um die Wähler der AfD zu befriedigen?

Ein kleines Mädchen, das neben Igor stand, reichte ihm eine Flasche mit Wasser. Sie war es gewohnt, so schien es, zu helfen. Es war ihr Impuls. Es war in ihrer Natur. Wie kommt es also, dass das Helfen in Zeiten der Krise diskreditiert wird? Wem dient diese Kritik?

Nach und nach stiegen die Menschen nun doch aus den Bussen aus. Sie wussten, dass sie keine Wahl hatten. Sie werden in diesen Hallen verschwinden. Auch die Bilder werden verschwinden. "Save Aleppo" hatte jemand auf eine Mauer geschrieben.

Vielleicht wird es jemand wie Bashir irgendwann schaffen. Er spricht fließend Englisch und Französisch, er hat in Aleppo als Lehrer gearbeitet. Er würde lieber wieder zurück in die Türkei, sagt er, als hier in Griechenland weggesperrt zu sein. Aber auch das geht nun nicht mehr.

Er ist ein Opfer der Politik. Die Polizei hat übernommen.