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Georg Diez

S.P.O.N. - Der Kritiker Sie taten liberal

Der Mittelstand sah dem Aufstieg Hitlers tatenlos zu - heute geifern die Rechten wieder. Und das Bürgertum? Schweigt und versagt abermals.
Feine Gesellschaft in den Zwanzigern

Feine Gesellschaft in den Zwanzigern

Foto: General Photographic Agency/ Getty Images

Das "feine Schweigen" also. Das trifft es eigentlich ganz gut. Wie kippt ein Land? Wie kippt eine Gesellschaft? Wie entstehen rechte Diktaturen? Und was ist die Rolle des Bürgertums?

Fritz Stern hat diese Formulierung benutzt, der große Historiker, der diese Woche gestorben ist, er hat sie benutzt, um das Versagen jener Schichten zu beschreiben, die die Gesellschaft eigentlich tragen sollten.

Aber sie weigerten sich, laut zu werden, sie waren sich zu gut dafür, in den Streit der Meinungen einzugreifen, sie überließen das Feld den Geiferern, sie taten liberal und hatten doch nicht gelernt, für diese Liberalität zu kämpfen.

Das Bürgertum also, kurz gefasst, das dem Aufstieg Hitlers einfach zusah; das Bürgertum, das auch heute zusieht, wie ein Land, wie ein Kontinent kippt, still, sediert oder sympathisierend.

Darüber sprachen wir.

Zu viele zu schlechte Nachrichten

Ich saß mit meinem Freund, dem Maler, beim Kaffee auf der Straße, die Sonne schien fahl auf Berlin herunter, und die Nachrichten machten auch keine gute Laune.

Wir unterhielten uns über den Dresdner AfD-Richter, der die NPD gegen die Pressefreiheit beschützt.

Wir unterhielten uns über die Fans von Union Berlin, von denen im Stadion auf einmal wieder Affengeräusche und rassistische Beschimpfungen zu hören sind. Sie trauen sich wieder, die Stimmung steht auf Hass.

Wir unterhielten uns über Dänemark, das immer ein bundesrepublikanisches Trug- oder Wunschbild von Liberalität gewesen war und wo nun Bürgerwehren an der Grenze patrouillieren, um das Land vor Flüchtlingen zu schützen.

Wir unterhielten uns über Polen, wo es besonders rasant zugeht. Er sei geschockt, hatte Fritz Stern, der 1938 vor den Nazis in die USA floh, kurz vor seinem Tod gesagt, "mit welcher Schnelligkeit hier ein autoritäres System errichtet wird".

Lieber Dienst nach Vorschrift

Da kippt schon nichts mehr, da rutscht nichts mehr, da herrscht bereits die neue Realität, die mit der Gegenwart und der Zukunft Schluss macht und sich ganz auf die Rekonstruktion einer mythologischen, nationalen Vergangenheit konzentriert.

Was aus solcher Kulturpanik entsteht, hatte Stern schon in seinem ersten Buch "Kulturpessimismus als politische Gefahr" von 1961 beschrieben, die Irrationalität, die Demokratieverachtung, der Rassenhass, den rechte Intellektuelle vor 1914 schürten, machte all das, was 1933 bis 1945 folgte, erst möglich.

Im zynischen, müden Berlin von heute ist man sich allerdings oft zu schade für solche historischen Analysen, sie sind irgendwie unappetitlich, so scheint es, man macht lieber Dienst nach Vorschrift.

Humanismus, Argumente - da kommt nichts

Das erklärt dann auch die verbreitete mediale Unfähigkeit, zum Beispiel auf die FPÖ und deren Saubermacher Norbert Hofer mit klaren Argumenten und Entschiedenheit zu reagieren.

Das erklärt den schleichenden Opportunismus, der sich auch in dem seltsamen Satz zeigt, der in Varianten gerade immer wiederholt wird, man dürfe die AfD-Wähler nicht alle zu Nazis machen. Als ob es darum ginge.

Das erklärt die ganz grundsätzliche Verweigerung, menschliche oder humanitäre Gesichtspunkte zu relevanten Argumenten in der Diskussion um Grenzen und Flüchtlinge zu machen.

Relativismus rules.

Währenddessen geifern die Rechten immer weiter, und wenn man sie kritisiert, dann gibt es zum Beispiel Till Nikolaus von Heiseler, der einem auf Facebook den Tod wünscht und schreibt: "Journalisten an die Laternen!"

Und wenn man den Namen dann googelt, erfährt man, dass der Großvater von Till Nikolaus von Heiseler ein Schriftsteller war, der im Mai 1933 in die NSDAP eintrat.

Wie fühlt es sich also an, wenn eine Gesellschaft kippt?

Die Stille herrscht in der Stadt.

Feines Schweigen.

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