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Maghreb-Staaten Sichere Herkunftsländer? Sicher nicht

Marokko, Algerien und Tunesien sollen nach dem Willen des Bundestags künftig als sichere Herkunftsländer gelten. Bei genauerem Hinsehen passt dieses Label aber auf keinen der Staaten.
Proteste in Tunesien

Proteste in Tunesien

Foto: STRINGER/ REUTERS

424 Bundestagsabgeordnete haben die drei Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern gekürt. Sie stimmten am Freitag im Bundestag für das umstrittene Gesetz, mit dem nordafrikanische Asylbewerber schneller in ihre Heimat abgeschoben werden sollen.

Im Idealfall sollen sie von der Erstregistrierung bis zur Rückführung in speziellen Aufnahmeeinrichtungen bleiben. Zugleich sollen Fluchtwillige in den Ländern abgeschreckt werden.

Von Kanzleramt und Bundestag aus gesehen scheinen Marokko, Algerien und Tunesien offenbar wie ein homogener Block. Doch diese Entscheidung ignoriert die deutlichen Unterschiede zwischen den Staaten. Tunesien ist eine junge Demokratie, Algerien wird von einem greisen Diktator an der Spitze einer Militärdiktatur regiert, Marokko ist eine autoritäre Monarchie, die Unabhängigkeitsbestrebungen in der besetzten Westsahara brutal unterdrückt.

Die Lage in den drei Maghreb-Ländern unterscheidet sich also deutlich. Der Überblick.

Tunesier am fünften Jahrestag der Revolution

Tunesier am fünften Jahrestag der Revolution

Foto: ZOUBEIR SOUISSI/ REUTERS

In Tunesien nahm der sogenannte Arabische Frühling Ende 2010 seinen Anfang. Der öffentliche Suizid des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi löste einen Volksaufstand aus, der im Januar 2011 schließlich zum Sturz von Langzeitdiktator Zine el-Abidine Ben Ali führte. Seither ist Tunesien der einzige arabische Staat, der sich demokratisch entwickelt. Dafür erhielt das sogenannte tunesische Dialogquartett im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis, ein Bündnis von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Menschenrechtlern und Juristen, das seit der Revolution die Demokratisierung fördert.

Die 2014 verabschiedete Verfassung garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, eine Justizreform soll die Bürger vor Behördenwillkür und Polizeiübergriffen schützen. Trotzdem berichten Gefängnisinsassen von Folter und Misshandlungen in Haft.

Frauen werden aber noch immer kaum gegen sexuelle Gewalt geschützt. So können Männer, die Minderjährige vergewaltigen, einer Strafe entgehen, wenn sie ihr Opfer heiraten. Lesben, Schwule und Bisexuelle werden diskriminiert. Homosexuelle Beziehungen werden mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft.

Mit großer Sorge blicken viele Tunesier auf die wirtschaftliche Lage. Seit dem islamistischen Anschlag auf ein Strandhotel in der Küstenstadt Sousse, bei dem im Juni 2015 39 Menschen getötet wurden, liegt die so wichtige Tourismusbranche am Boden, weil europäische Urlauber das Land meiden.

In Algerien steht seit 17 Jahren Präsident Abdelaziz Bouteflika an der Staatsspitze. Der 79-Jährige ist ein Pflegefall, seit seiner Wiederwahl vor zwei Jahren tritt er kaum noch in der Öffentlichkeit auf. Regelmäßig reist er für Monate nach Frankreich oder in die Schweiz, um sich behandeln zu lassen. Im April twitterte Frankreichs Premier Manuel Valls ein Bild, das Bouteflika als senilen Greis zeigt.

Der angeschlagene Zustand des Präsidenten steht bildhaft für die wirtschaftliche Lage des Landes. Hinter Nigeria ist Algerien der zweitgrößte Erdölexporteur des afrikanischen Kontinents. Lange verprasste die Elite aus Militär, der seit der Unabhängigkeit regierenden Staatspartei FLN und der mit ihr verbandelten Geschäftsleute den Ölreichtum. Seitdem der Ölpreis fällt, wächst das Staatsdefizit. Für einen ausgeglichenen Haushalt müsste der Ölpreis bei 93 Dollar pro Barrel liegen, derzeit liegt er bei weniger als der Hälfte.

Das macht es für Algerien immer schwieriger, die Subventionen für verbilligte Wohnungen und Lebensmittel zu finanzieren, mit denen die Regierung das Stillhalten der Bürger erkauft.

Kaum besser ist die Menschenrechtslage: Als Ben Ali im Nachbarland Tunesien gestürzt wurde, hob Algier im Februar 2011 nach knapp 20 Jahren den Ausnahmezustand auf. Im Alltag hat sich dadurch aber wenig verändert: Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bleiben stark eingeschränkt.

König Mohammed VI.

König Mohammed VI.

Foto: AFP PHOTO /HO/ MOROCCAN ROYAL PALACE

Marokkos König Mohammed VI. präsentiert sich gern als aufgeklärter Herrscher, der sein Land behutsam reformiert. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit: Die Regierung unterdrückt die Oppositionsbewegung 20. Februar, die sich seit 2011 für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Kritiker des Königshauses werden von den staatlichen Medien diffamiert und landen wegen "Gefährdung der inneren Sicherheit" im Gefängnis. Auch Journalisten sind wegen "falscher Berichterstattung" belangt worden.

Mit besonderer Härte geht die Regierung gegen Bewohner der Westsahara vor, die sich für die Unabhängigkeit ihrer seit 1975 von Marokko besetzten Heimat einsetzen. Mehrfach hat das Militär in den vergangenen Jahren Proteste in dem Wüstengebiet gewaltsam niedergeschlagen.

Es ist jedoch die wirtschaftliche Lage, wegen der viele junge Marokkaner nach Europa gehen. Zwar haben in den vergangenen Jahren vor allem französische Unternehmen wie Renault in Marokko investiert, wegen des weiterhin hohen Bevölkerungswachstums nimmt die Arbeitslosigkeit aber stetig zu. Besonders groß ist der Perspektivlosigkeit junger Menschen vom Land - sie ziehen ein Leben in der Illegalität in Europas Großstädten ihrer Heimat vor. Daran wird auch die Einstufung Marokkos als sicheres Herkunftsland nichts ändern.

Zusammengefasst: Die Bundesregierung will die Abschiebung von Asylsuchenden aus Marokko, Algerien und Tunesien erleichtern und hat die drei Staaten deshalb zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Dabei lässt die Politik außer Acht, dass sich die Maghreb-Staaten deutlich voneinander unterscheiden. Tunesien ist eine junge Demokratie, Algerien wird von einem greisen Diktator regiert, Marokko ist eine autoritäre Monarchie. Sicher leben Andersdenkende jedoch in keinem dieser Länder.