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Mettelsiefen-Film über Syrien: Der Albtraum von Aleppo

Foto: ZDF/ Alina Emrich

ZDF-Fernsehfilm "Das Schicksal der Kinder von Aleppo" "Alles war umsonst"

Die Familie Kasmou will Aleppo nicht verlassen, die Revolution gegen das syrische Regime nicht aufgeben - bis es nicht mehr geht. Marcel Mettelsiefen hat sie begleitet und einen eindrucksvollen Film geschaffen.

Der Fernsehfilm "Das Schicksal der Kinder von Aleppo" (5.5., ZDF, 22.30 Uhr) erzählt so dicht und so eindrucksvoll von dem Krieg in Syrien wie noch kaum ein Film zuvor. Gedreht und produziert hat ihn Marcel Mettelsiefen, der 2014 für seine Syrien-Dokumentation "Children on the Frontline" einen Emmy gewann, den begehrten amerikanischen Fernsehpreis. Mettelsiefen schildert das leben und den Schrecken der Familie Kasmou in der syrischen Stadt, die Flucht und die Ankunft in Goslar, wo die Familie heute lebt. Es ist ein Film, der all das beschreibt, worüber in der Flüchtlings- und der Integrationsdebatte gestritten wird - ein Film, der zeigt, wie es ist.

Zur Person

Marcel Mettelsiefen, 37, begann seine Karriere als Fotograf, er berichtete aus Israel und den besetzten Gebieten, Afghanistan, Irak, Haiti. Gemeinsam mit dem heutigen Spiegel-Korrespondenten Christoph Reuter veröffentlichte er das Buch "Kunduz. 4. September 2009. Eine Spurensuche" über einen fatalen Raketenangriff im Süden der afghanischen Stadt. Er berichtete 2011 aus Ägypten, Libyen, Syrien und Afghanistan und gewann für seinen Film "Agony in Aleppo" 2014 einen Emmy, den amerikanischen Fernsehpreis. Sein aktueller Film hat vor allem in England und Amerika für viel Aufmerksamkeit gesorgt.

SPIEGEL ONLINE: Marcel Mettelsiefen, seit fast vier Jahren ist die syrische Stadt Aleppo praktisch vollständig umzingelt, auf der einen Seite von Regierungstruppen, auf der anderen Seite von den Truppen des "Islamischen Staates". Wie ist dort Leben noch möglich?

Mettelsiefen: Es gibt schätzungsweise eine halbe Million Menschen, die immer noch in Aleppo leben, die es noch nicht geschafft haben zu gehen, aus einem einzigen Grund: Weil sie nicht wissen wohin. Für diese Menschen ist die Situation desaströs.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben einen Film über die Familie Kasmou aus Aleppo gedreht. Haben Sie noch Kontakt zu Menschen dort?

Mettelsiefen: Mein Kameramann arbeitet als Medien-Aktivist in Aleppo, er schickt mir immer noch Bilder. Und auch Mitglieder der Familie, die ich für meinen Film begleitet habe, sind noch in der Stadt, sechs Brüder mit ihren Familien. Nur Hala Kasmou und ihre Kinder konnten von dort fliehen. Ihre Mutter lebt genau neben einem der Krankenhäuser, die jetzt angegriffen wurden. Zum Glück hat sie überlebt.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben die Revolution von ihren friedlichen Anfängen an begleitet, waren 2011 und 2013 im Land. Wie haben Sie die Kinder der Familie kennengelernt?

Mettelsiefen: Ich suchte Protagonisten für meinen Film. Ich kannte Abu Ali, den Vater der Kinder, von früheren Reisen. Er führte ein Regiment von Rebellen an. Und als ich ihn fragte, ob es noch Kinder in der Gegend gibt, die ich interviewen und filmen könnte, sagte er: Die einzigen Kinder, die es hier noch gibt, sind meine eigenen.

SPIEGEL ONLINE: Dieser eindrucksvolle Mann ist im ersten Teil des Films zu sehen. Sie verließen Aleppo dann, weil die Situation zu gefährlich wurde. Zwei Monate später wurde Abu Ali vom Islamischen Staat verschleppt.

Mettelsiefen: Es war die Zeit, in der sehr viele Journalisten-Kollegen entführt wurden. Ich dachte, ich pausiere und komme dann wieder zurück, weil ich diese Familie so faszinierend fand. Ich merkte aber sehr schnell, dass das nicht passieren würde, weil der "Islamische Staat" genau in dieser Zeit sein finsterstes und bösestes Gesicht zeigte und anfing, Köpfe abzuschlagen.

SPIEGEL ONLINE: Sie gingen dann 2014 wieder zurück, was war in der Zwischenzeit passiert?

Mettelsiefen: Abu Ali war von seinen Kameraden verraten worden, es war ein Machtkampf innerhalb seines Regiments. Er hatte Waffen an die Kurden geschmuggelt, der "Islamische Staat" hatte ihn deshalb auf eine Liste gesetzt, und einer, der seine Führungsrolle wollte, verriet ihn. Er wurde verkauft.

SPIEGEL ONLINE: Und seine Frau Hala?

Mettelsiefen: Sie musste mit den Kindern immer wieder die Wohnung wechseln, es war die Zeit, in der Assad mit Fassbomben ganze Viertel ausradierte. Die Mutter ist überhaupt die zentrale Figur dieses Film. Hala versucht, zwei Sachen miteinander zu verbinden: Ihren Mikrokosmos und ihr Land. Und der Verlust ihres Mannes steht für den Verlust ihres Landes.

SPIEGEL ONLINE: Was ist das für eine Familie, die Kasmous?

Mettelsiefen: Sie sind moderat, gebildet, eine Mittelklassenfamilie. Beide haben studiert, beide sprachen Englisch. Sie haben sehr bewusst drei ihrer Kinder einen christlichen, einen jüdischen und einen muslimischen Namen gegegen, Helen, Sara, Farah. Sie kommen aus Aleppo, eine Stadt, die sich erst sehr spät und sehr langsam dem Aufstand anschlossen, eine Stadt der Händler und sehr wohlhabend, eine Stadt, die sehr viel zu verlieren hatte.

SPIEGEL ONLINE: Im Film sagen sie beide, dass sie bereit sind, ihre Familie für diesen Kampf zu opfern, also ihre Kinder, auf die so lange warten mussten.

Mettelsiefen: Acht Jahre konnten sie keine Kinder bekommen, das ist richtig, und doch entscheiden sie sich zu bleiben und nicht wie viele andere Familien zu gehen. Es war ihnen bewusst, dass sie sehr viel zu verlieren hatten, und zwar das, was ihnen am wertvollsten war. Und Hala muss 2014 erkennen, wie ihre Revolution, wie das, wofür sie gekämpft hat und warum sie ihren Mann verloren hat, gekidnappt wird von Extremisten. Alles war umsonst.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind dabei, wie die Kinder Bombenangriffe erleben, Sie sind dabei, wie die Kinder Enthauptungsszenen nachspielen. Wie haben Sie diese Nähe, diese Unmittelbarkeit geschafft?

Mettelsiefen: Eine Zeit lang habe ich bei der Familie gewohnt, was selten ist, denn es ist eine muslimische Familie ohne Mann, nur mit einer Mutter. Viele Bilder hat auch mein ehemaliger Fahrer gedreht, dem ich beigebracht habe zu filmen.

SPIEGEL ONLINE: Die Szenen der spielenden Kinder, die sich mit Maschinengewehren durchs Haus jagen, sind dabei grausam und komisch und surreal zugleich.

Mettelsiefen: Sie zeigen vor allem auch, wie stark das Narrativ des "Islamischen Staates" ist, das sich durch die sozialen Netzwerke verbreitet. Gerade für Kinder ist die Mär dieses Monsters allgegenwärtig, dieses fast dschingiskhan-mäßige Schreckgespenst.

SPIEGEL ONLINE: Wie kam es dann doch zur Flucht?

Mettelsiefen: Ende 2014 hat die Mutter gemerkt, dass es einfach nicht mehr geht, dass ihr das Geld ausgeht, dass es schlichtweg zu gefährlich wurde. Ich war im September 2014 in Aleppo, als es einen großen Fassbombenangriff gab, da sagte sie, es geht nicht mehr. Ihr war klar, dass sie nicht in der Türkei enden wollte, wo die Lager zu dieser Zeit schon voll waren und das Leben als Frau unbezahlbar gewesen wäre, ohne Mann und ohne Arbeit. Für sie war die einzige Möglichkeit zu schauen, wie sie legal nach Deutschland kommt. Sie hatte ja auch kein Geld für einen Schlepper.

SPIEGEL ONLINE: Damals entschied die Bundesregierung, insgesamt 30000 Flüchtlinge aufzunehmen.

Mettelsiefen: Ich habe ihr den Kontakt zum türkischen Generalkonsulat vermittelt, und vier Monate später haben sie die Zusage bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Wie war das für Sie, hin und her gerissen als Journalist, ob und wie man helfen kann?

Mettelsiefen: Eine der großen journalistischen Herausforderungen des Syrien-Krieges war, dass ich nicht so arbeiten konnte, wie ich es gewohnt war. Ich musste mich von Anfang an entscheiden, welchen Teil der Geschichte ich erzählen wollte, weil ich beide Teile nicht erzählen konnte. Es gab für jemanden, der bei den Rebellen war, kein Visum für das Gebiet, das vom Regime kontrolliert war.

SPIEGEL ONLINE: Was hieß das konkret für Ihre Berichterstattung?

Mettelsiefen: Ich wollte immer objektiv und unabhängig sein, weil das für mich der einzige Grund sein konnte, dieses große Risiko einzugehen. Ich habe sehr viele Menschen sterben gesehen. Und das einzige, was einem dann übrig bleibt, ist, tatsächlich Augenzeuge zu sein.

SPIEGEL ONLINE: Es ist auch ein Film über Flucht. Haben Sie politische Absichten?

Mettelsiefen: Als ich den Film gemacht habe, da gab es diese große Fluchtbewegung, über die jetzt immer gesprochen wird, noch gar nicht. Ich habe den Film selbst produziert und finanziert, es war ein großes Risiko. Und ich hatte immer Zweifel, ob der Film schließlich funktionieren würde. Aber je länger ich daran arbeitete, desto komplizierter wurde es für mich, weil ich merkte, dass an dem Film, den ich gerade mache, die halbe Nation arbeitet.

SPIEGEL ONLINE: Jeder hatte auf einmal Erfahrungen mit Flüchtlingen, meinen Sie?

Mettelsiefen: Wir sahen so viele schreckliche Bilder, wir hörten von Menschen, die im Mittelmeer ertrunken waren, ich fragte mich, ob meine Familie überhaupt repräsentativ war, ob sie überhaupt genug gelitten hatten. Und dann merkte ich, dass gerade die Geschichte der Mutter, Hala, so besonders und relevant ist. Sie, die bereit war, ihre Kinder für die Revolution zu opfern, versucht nun, ihren Kindern die Möglichkeit zu schaffen, sich selbst und damit auch dem Land Syrien eine Zukunft zu schaffen.

SPIEGEL ONLINE: Sie leidet.

Mettelsiefen: Sie leidet wie jeder Flüchtling. Und das ist für mich die wichtigste Botschaft. Zu zeigen: Diese Menschen sind hier, weil sie nicht dort bleiben konnten.