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Abgehört - neue Musik Verknallt in die Zukunft des Rock'n'Rolls

Live gehören sie bereits zu den aufregendsten Indierock-Acts des Jahres, jetzt folgt das niedlich-bombastische Debüt-Album von LUH. Außerdem: feministischer R&B von Kendrick Lamars Sängerin und ein charmanter Folk-Eremit.

Liebe Abgehört-Leser, bereits am vergangenen Freitag veröffentlichte der kanadische Rapper Drake sein neues Album "Views", auch das ist natürlich eine der wichtigsten Veröffentlichungen dieser Woche. Tobias Rapps Rezension können Sie hier nachlesen.

LUH - "Spiritual Songs For Lovers To Sing"
(Mute/Goodtogo, ab 6. Mai)

Gerade hatte ich mich damit abgefunden, dass Rockmusik sich zurzeit darauf beschränkt, schwächlich und sehnsüchtig ins 20. Jahrhundert zurückzublicken, da trat Anfang März eine Band auf die Bühne der kleinen Kantine am Berghain und tat so, als wäre dies nicht ihr erster Auftritt vor deutschem Publikum vor etwas mehr als 100 Leuten in einem Club, sondern ein seit Langem ausverkaufter Mega-Gig im Olympiastadion, ach was: Wembley, mindestens. Ich fühlte mich wie Richie Finestra in der übrigens dann doch noch sehr guten Siebzigerjahre-Serie "Vinyl", als er zum ersten Mal die New York Dolls sah und prompt der ganze Mercer Ballroom über ihm und seiner Punk-Epiphanie zusammenkrachte. Und das alles ganz ohne Koks!

LUH heißt die Band, kurz für Lost Under Heaven, die sich da so unverschämt großspurig gab, mit so viel Selbstverständlichkeit sympathische Pathos-Gesten verschleuderte, dass die Tapeten- und Putzfetzen an der niedrigen Kantinendecke erbebten und sich zu einem weit offenen Himmelsgewölbe öffnen wollten. So viel Euphorie, so viel rohe, romantische Energie war lange nicht in einem Rockkonzert.

Wir suchten nach Vergleichen für diesen weltumarmenden Sound und fanden nur die frühen U2. Wobei LUH-Sänger Ellery James Roberts mit seiner langgliedrigen Schlaksigkeit eher an Jonathan Richman als an Bono erinnert. Sollte sein Leben mal verfilmt werden, wer weiß, müsste wohl Jake Gyllenhaal ihn spielen - so jungenhaft scheu und dämonisch verdüstert, wie nur er es kann.

U2 passen auch deshalb als Vergleich, weil der Anspruch von LUH durchaus weltverbesserische Züge trägt. Gespeist wird er aus einer Ideologie des Verknalltseins, denn Roberts, ehemals Sänger und Songwriter der aus Manchester stammenden Band WU LYF, die ihr Debüt-Album 2008 zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, als die Welt (dieser Kritiker eingeschlossen) noch nicht reif dafür war und sich wenig später auflöste, traf vor drei Jahren durch Zufall die niederländische Multimedia-Künstlerin Ebony Hoorn. Es funkte gewaltig - und man zog alsbald gemeinsam nach Amsterdam. Dort und auf dem kargen Eiland Osea vor der britischen Küste entstand unter Anleitung des Electro-Goth-Musikers und Produzenten Bobby Krlic (alias The Haxan Cloak) das bemerkenswerte Album "Spiritual Songs For Lovers To Sing".

Es beginnt mit einem sparsamen, aber elegischen Piano-Intro "I&I", das aber sogleich mit dem heiseren Ich-brülle-mir-mit-jedem-Wort-die-Seele-aus-dem-Leib-Gesang von Roberts kontrastiert wird. Hoorns abgeklärtere Stimme kommt als Chorus-Echo dazu, dann wölkt ein - vorrangig elektronischer - in weite Räume aushallender Geräusche-Orkan auf, der wie die durch den postmodernen Wolf gedrehte Version einer Springsteen-Hymne aus den Achtzigern klingt. "Unites" behält den Boss-Duktus wie auch den Doppelgesang bei, addiert aber noch eine irrlichternde Edge-Gitarre und wummernde Synthetik-Drums hinzu. "Are you ready?", grölt Roberts durch dieses wuchtige, statisch verzerrte Gewitter hindurch. Klar, sind wir. Aber wofür?

Als Begleitmaterial für LUH empfiehlt Roberts die Lektüre der Theorien des Philosophen Buckminster Fuller sowie Schriften über Transhumanität und den Zerfall des Kapitalismus. Auch Joseph Campbells Standardwerk "Der Heros in tausend Gestalten", auf dessen Helden-Topos halb Hollywood basiert, nennt er als Inspiration für die im Song "Beneath The Concrete" bilanzierte, natürlich zutiefst pervertierte "brave new world", die nur durch Selbsterkenntnis und Zweisamkeits-Power mit neuem Sinn gefüllt werden kann. Dreh- und Angelpunkt ist das Mittelstück "$oro", das nach zwei Dritteln vom apokalyptisch-abrasiven Pop-Bombast in ungestümen Gabba-Techno kippt.

LUH wollen nicht nur die musikalischen Grenzen zwischen Elektronik und Rock sprengen, sie wollen dem modernen, von Politik, Ökonomie und Religion abgehängten Prekariat die Spiritualität der Liebe nahebringen. Mit dem schamlosen Helden-Pathos des Achtzigerjahre-Kinos stilisieren sie sich, verloren unter dem Himmel, in eine Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Romantik hinein, die in ihrer sperrigen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit sehr niedlich und sehr mitreißend zugleich ist. Das private Glück wird spektakulär zu einer politischen Utopie aufgepumpt.

Auch wenn das auf dem Album nicht immer hundertprozentig funktioniert und vor allem in der zweiten Hälfte allzu oft in gängige Schwermuts- und Industrial-Rockposen mündet ("Lost Under Heaven", "Lament") abdriftet, live sind LUH schon jetzt einer der aufregendsten Acts des Jahres. Die Zukunft des Rock'n'Rolls, hier scheint sie eine Möglichkeit zu sein. (9.0) Andreas Borcholte

Anna Wise - "The Feminine: Act I" (EP)
(self-released via iTunes, Spotify, etc., seit 29. April)

Wenn Sie Kendrick Lamars Alben "Good Kid, m.a.a.d. City" und "To Pimp a Butterfly" kennen, dann wissen Sie auch, wer Anna Wise ist. Die singt nämlich für Lamar die weiblichen Vocal-Parts und wurde dafür, als Co-Künstlerin, bereits zweimal für einen Grammy nominiert. Die Öffentlichkeit nutzt die junge, weiße Sängerin aus Boston nun für einen Aufschlag in eigener Sache. US-Feministinnen begeisterten sich in den vergangenen Wochen bereits für ihre fröhlich-frustrierte Single "BitchSlut", jetzt folgt mit der im Eigenvertrieb veröffentlichten EP "The Feminine: Act I" die weitere Ausformulierung ihres frauenbewegten Manifests.

"Wenn ich Nein sage, bin ich eine Bitch, wenn ich Ja sage, nennst du mich Schlampe", um dieses Lose-Lose-Spiel, dem Frauen im Umgang mit dem männlichen Geschlecht kaum entkommen können, geht es in "BitchSlut", "Precious Possession" handelt von dem Dilemma, einerseits selbstbestimmte Frau sein zu wollen, andererseits als Prinzessin verwöhnt werden zu wollen. Begehrt werden ist wichtig, aber um welchen Preis? Und muss man als Frau nicht eh alles Mögliche sein: sexualisiertes Lustobjekt, "Girl, Mother, Crone", wie ein weiteres Song-Fragment heißt, das in den dystopischen Funk-House-Track "Go" mündet. Auf geht's, Girls, aber wohin?

"How Would You Call A Dog" ist ein 13 Sekunden langer Straßenclip, in dem Männer zu Protokoll geben, dass sie einem Hund mit denselben Schmatz und Schnalzlauten hinterherrufen wie einem attraktiven Mädchen. Schön auf den Hüftumfang und das schön schimmernde Haar achten, aber gleichzeitig geschlechterunabhängiges Gehalt fordern, von dieser Dichotomie des Frauseins im 21. Jahrhundert handelt "Decrease My Waist, Increase My Wage", der Körper als Ware auf dem Markt der Ungleichheit.

Die Musik dazu ist von so kontrastierender R&B-Süße und vertrackt-verspulte Post-Soul-Leichtigkeit, dass die Säure der Texte sich umso effektvoller durchfrisst, sobald man den Texten wirklich zuhört. Zum musikalischen und ästhetischen Anspruch, den vergleichbare Künstlerinnen wie FKA-Twigs, Lafawndah oder auch Jessy Lanza vertreten, fehlt hier noch einiges, aber Anna Wise positioniert sich hier mit kerniger Tongue-in-cheek-Attitüde als Liz Phair eines feministisch motivierten Elektropops. (7.0) Andreas Borcholte

A. Dyjecinski - "The Valley Of Yessiree"
(Sideways Saloon/Republic of Music/Rough Trade, seit 29. April)

Einfach mal allein sein, hach! Einfach? Nee. Arthur Dyjecinski, ein Kanadier, der kurioserweise in England bei einer Band namens Dracula Legs spielt, deren Name allein schon erklärt, warum sie bisher erfolglos blieb, dieser A. Dyjecinski also wollte mal so richtig schön allein sein, Sie wissen schon: im eichendorffschen Sinne mutterseelenallein.

Dazu reiste Dyjecinski aufs offenste Meer, das er finden konnte, und wanderte in gebirgige Höhen, auf der Suche nach ultimativer Geworfenheit unter dem gleichgültigen Himmelszelt. Hungrig, frierend. Nur: Das Alleinsein wollte sich partout nicht einstellen, denn die wahrscheinlich unglückselige Liebschaft, der er offenbar auf diese Weise entfliehen wollte, blieb ihm natürlich erhalten. Von wegen: Die Gedanken sind frei, einen Dreck sind die, wenn man an die eine denkt, die man nicht haben kann, die einen verlassen hat oder die man verloren glaubt.

Dumm gelaufen. Aber zumindest hat der selbstverständlich vollbärtige Dyjecinski ein paar sehr gute Songs für sein nach in Bon-Iver-Manier in kompletter Eigenregie und in Eremitage eingespieltes und aufgenommenes Solo-Debüt dabei herausbekommen, dass Freunde der staunenden In-die-Natur-glotz-Folkloristik erfreuen dürfte. Zu seinem großen Vorteil verfügt Dyjecinski (Ich schreibe den Namen, so oft es geht, damit Sie ihn sich beim Lesen immer wieder vorsagen müssen, bis er sitzt) über eine sinnliche Baritonstimme, die er mal so beseelt vibrieren lassen kann wie, tatsächlich, Anohni ("I'm The Woods"), mal so abgeklärt lakonisch in die Kehle rutschen lässt wie Bill Callahan ("The Resurrection").

Die Musik, die er dazu spielt, mit Gitarre, Mini-Drumkit, Piano, Geräusche-Diskette und einer gelegentlichen Trompete, passt zum Gefühl des generellen Eingeschneitseins in diesem mysteriös-bejahenden "Valley Of Yessiree". Dyjecinski beherrscht die verstockt-verstoppte Kammermusik-Nokturnen der Tindersticks ("Goad By The Valley") ebenso wie das an Swans und Neil Young angelehnte Feedback-Surfing ("Hunger") und schönen Countryfolk ("Dead Horses"). So originell, dass man sich den Namen A. Dyjecinski wirklich einpauken müsste, ist das alles noch nicht. Aber gut, dass wir es jetzt für alle Fälle mal gemacht haben. Man weiß ja nie. (7.5) Andreas Borcholte

Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)

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