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Biwakschachteln: Nachtlager mit Aussicht

Foto: Bernd Ritschel

Biwak in den Alpen Ich und der Berg

In Berghütten herrscht oft Trubel, in einem Biwak hingegen ist man ganz allein. Der Alpinist Tom Dauer über ein unvergessliches Erlebnis.

Man muss etwas weiter gehen, will man in den Alpen Einsamkeit finden. Zumindest ein Gefühl davon: Was es bedeutete, gäbe es keine Pfade, Steige und Wegweiser, stünden auf Gipfeln keine Kreuze, führten Lifte und Seilbahnen nicht in die Höhe, wären die Berge in ihrem Urzustand geblieben - was auch immer man sich darunter vorstellen mag.

Geht man tatsächlich etwas weiter, verlässt man die alpine Komfortzone mit all ihrer Infrastruktur, ist man oft froh, da draußen doch irgendwo ein bisschen Schutz zu wissen. Keine Hütte, nein, das wäre schon zu viel - mit Hüttenregeln und festen Essenszeiten und anderen Gästen. Aber eine Biwakschachtel, so wie auf dem Grat der Laliderer, das ist schon gut. Da weiß man, wo man hinmuss, wenn es duster wird.

1948 stellten die "Karwendler", ein Club extremer Bergsteiger aus Innsbruck, ein Holzhäuschen auf die ausgesetzte Schneide. Es sollte Schutz bieten: Wanderern, die einsame Kare rund um das Roßloch erkundeten, und Kletterern, die durch die Nordwände der Laliderer heraufkamen. So war man gegen die Unbill des Wetters gefeit, oder man konnte sich einfach ausruhen.

Wie eine Mondlandefähre

Knapp 50 Jahre später wurde das marode Hüttchen ersetzt durch eine Konstruktion, die ein bisschen aussieht wie Eagle, die Mondlandefähre der Nasa-Mission Apollo 11. Mitten im Geröll steht sie, auf abschüssigem Grund, etwa zehn Meter unter dem messerscharfen Grat, hinter dem die Laliderer Wände 800 Meter tief abstürzen.

"Notunterkunft" ist für das neue Karl-Schuster-Biwak allerdings eine Untertreibung: Es gibt eine Kochstelle und einen Tisch, und eine Solarzelle speist Beleuchtung und Notruftelefon mit Strom. Eine Plexiglaskuppel bildet das Dach, zwei auf zwei Meter. Tagsüber lässt sie Licht herein und gibt nachts den Blick auf den Sternenhimmel frei.

Fast wie bei einem "richtigen" Biwak - denn das ist ein "behelfsmäßiges Nachtlager im Freien", sagt das Wörterbuch. Um wirklich alpine Wildnis zu spüren, muss man also noch weiter gehen und etwas schwerer tragen: Schlafsack, Isomatte, Bekleidung, Kocher, Essen, Tasse, Teller, Messer und Löffel - auf eine Gabel kann man verzichten, wie überhaupt auf alles, was nicht unbedingt nötig ist. So ausgerüstet, zieht man los, geht, so weit man will, und sucht sich einen schönen Platz zum Schlafen.

Ob auf sanften Matten, zwischen Steinblöcken, auf kaltem Schnee, in wangenbeißender Kälte, mit klammen Füßen und Händen - eine Nacht kann nicht schöner sein als unter freiem Himmel, hoch über Tälern und Lichtern. Sofern man sie freiwillig so verbringt, und nicht etwa, weil man einen Orkan aussitzen oder der Erschöpfung widerstehen muss.

Weit weg vom Akustikschrott des Alltags

Dann guckt man in die Sterne und stellt sich vor, wie Orion, der Himmelsjäger, das Schwert aus seinem funkelnden Gürtel zieht. Warum diese Nächte in den Bergen so eindrucksvoll sind, ist so einfach wie schwierig zu erklären: Nicht durch sich selbst, sondern nur durch die Abwesenheit von etwas anderem macht man hier eine Erfahrung - die der Stille. Vollkommener Stille. Sodass man glaubt, die Stille greifen zu können. In solchen Momenten ist sie wie Wasserrauschen, immer da, immer gleich, immer anders. Aber nur hörbar, wenn der allgegenwärtige Akustikschrott unseres Alltags sie nicht überspült.

Als ich neulich mit einem guten Freund im Karwendel unterwegs war, ließen wir deshalb auch das Karl-Schuster-Biwak links liegen. Stattdessen suchten wir uns eine ebene Fläche, platzierten Isomatten und Schlafsäcke, entzündeten den Gaskocher, schmolzen Altschnee, aßen und tranken. Erst als wir uns niederlegten, fiel mir auf, dass wir kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Trotzdem hatte ich mich nicht fehl am Platz gefühlt. Ebenso wenig hatte ich das Bedürfnis gehabt, etwas zu sagen. Wir hatten einander einfach verstanden. Als unterhielte man sich in der Stille anders, eben ohne Worte. Als herrsche ein gegenseitiges Einverständnis, ein Wissen um Dinge, die sonst nicht erklärbar sind und die sich nur offenbaren, wenn man sie spürt.

Der nicht unbedingt für seine Schwärmerei berühmt gewordene Friedrich Nietzsche lässt seinen Zarathustra sagen: "Die größten Ereignisse - das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden."

Zum Glück gibt es die Stille der Berge. Und die der Biwaks.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Bildband "Hütten - Sehnsuchtsorte in den Alpen" von Bernd Ritschel und Tom Dauer.

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Bernd Ritschel, Tom Dauer:
Hütten

Sehnsuchtsorte in den Alpen.

National Geographic; 220 Seiten; 39,99 Euro.

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