Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Rotterdam: Wolkenkratzer statt Windmühlen

Foto: R. B. Fishman/ srt

Niederländische Hafenstadt "Rotterdam ist roh, immer in Bewegung"

Gläserne Kuben und hufeisenförmige Hochhäuser - Rotterdam ist ein Experimentierfeld für Architekten. Voller Ideen sind aber auch kleine, alternative Unternehmen, die alte Lagerhallen wiederbeleben.

Wo einst Seeleute in Hafenspelunken ihre Heuer versoffen, wachsen heute bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel. Rotterdam verändert sich ständig: Während der Hafen der Metropole immer weiter die Neue Maas hinunter Richtung Meer zieht, beleben Architekten und kreative Unternehmensgründer die frei gewordenen Grundstücke.

Wegen dieser Mischung zählt der Reiseführer Lonely Planet Rotterdam neuerdings zu den zehn sehenswertesten Städten der Welt. "Das Schöne an dieser Stadt ist, dass sie nicht so holländisch ist", sagt Simone Gorosics - und nimmt Bezug auf die Multikulti-Mischung ihrer Bewohner: Menschen aus 170 Nationen leben in der zweitgrößten Stadt der Niederlande mit ihren rund 650.000 Einwohnern.

Architektin Gorosics berät in ihrem Blog Nach Holland Deutsche, die in die Niederlande übersiedeln wollen. Vor 16 Jahren zog sie wegen des Jobs nach Rotterdam. Das raue, hässliche Entlein der Niederlande fing gerade an, sich schön zu machen. Man brauchte Fachleute, die an den kühnen Träumen von Hollands ewig Zweiter mitbauen wollten: an einer Schrägseilbrücke über die Neue Maas - die die Rotterdamer "Schwanenhals" nennen - oder der 44 Etagen hohen "vertikalen Stadt" De Rotterdam von Rees Koolhaas in Kop van Zuid. Dann kam die Krise 2007, und viele andere Projekte wurden erst mal auf Eis gelegt.

Gläserne Kuben, hufeisenförmige Hochhäuser

In jüngster Zeit aber umgesetzt wurde die Überbauung des Timmerhauses, hier hat ebenfalls der niederländischen Stararchitekt Koolhaas ein Backsteingebäude mit gläsernen Kuben veredelt. Anfang des Jahres eröffnete dort das Stadtgeschichte-Museum Rotterdam. 2014 hat Königin Máxima die futuristische Markthalle am Bahnhof Blaak eingeweiht, die sich hufeisenförmig elf Stockwerke hoch wölbt und Wohnungen, Geschäfte und jede Menge Verkaufsstände und Imbissbuden beherbergt.

Im gleichen Jahr nahm der neue mit Edelstahl verkleidete Bahnhof Rotterdam Centraal mit einem keilförmigen Dach seinen Betrieb auf. Saniert und aufgemöbelt wurde zudem der ehemalige Hofplein-Bahnhof, der jetzt mit einer hölzernen Fußgängerbrücke über Gleise hinweg mit dem Zentrum verbunden ist. Hier finden sich nun Restaurants, Boutiquen und ein Jazzklub.

Die Rijnhaven-Fußgängerbrücke verbindet das futuristische Kop van Zuid seit einigen Jahren mit Katendrecht, dem ehemaligen Chinesen- und Rotlichtviertel der Stadt. Sie endet auf einem ehemaligen Hafenkai, an dem Rotterdamer Kreative verlassenen Lagerhallen neues Leben einhauchen. In der bunt erleuchteten Fenix Food Factory  etwa sieht es aus wie auf einem Markt: An einem Stand backen junge Leute frisches Brot, an einem anderen holt jemand Pizza aus dem Ofen.

"Rotterdam ist roh, niemals fertig, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch", sagt Paul Posse, der in der Nähe ein Restaurant unter seinem Namen eröffnet hat. Er sitzt mit seinem Laptop an einem großen unbearbeiteten Holztisch am Rande einer Fabrikhalle. An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Im Regal stehen nur ein paar alte Keksdosen. Metall-Lampen spenden gedämpftes Licht.

Der bärtige Inhaber mit Kurzhaarschnitt und kariertem Hemd ist nicht nur Restaurantbesitzer, sondern auch Fotograf. Er sammelt klassische Fahrräder, schraubt an einem uralten Minibus, der bald wieder fahren soll, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus frischen einheimischen Zutaten. Sein Großvater war Hafenarbeiter. "Er schleppte für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist." Das, meint Posse, sei typisch Rotterdam. "Wir haben unglaublich viele kreative Leute hier."

Nüchtern, direkt und zupackend

Erfindergeist musste Rotterdam immer wieder in Krisen beweisen. Am 14. Mai 1940 bombardierte die deutsche Luftwaffe das Zentrum. Die Geschichte dazu findet sich in einer Ecke der Touristeninformation in der Innenstadt. Auf einem Fernseher laufen in einer Endlosschleife die Schwarz-Weiß-Bilder von dem Angriff. Drei Tage brannte die Stadt. Kanäle und der breite Fluss, die Neue Maas, stoppten das Feuer. Brandgrens, Brandgrenze, heißt heute noch die scharfe Kante, die den Schnitt zwischen dem alten und dem neuen Rotterdam markiert.

Kaum war Holland befreit, kamen Architekten aus dem ganzen Land, um an der Stadt der Zukunft zu bauen - oder dem, was sie dafür hielten: autogerechte Straßen, Bürohauskästen und Läden. Wohnen sollten die Menschen draußen im Grünen. Noch heute lebt nur etwa jeder zehnte Einwohner im Zentrum.

Dort beweisen gleich zwei Unternehmen, dass sie nüchtern, direkt und zupackend sind - wie die Rotterdamer sich gern selbst beschreiben. In einer ehemaligen Fabriketage in der Teilingerstraat entwerfen fünf Designer in ihren Superuse Studios aus Müll neue Produkte. Sie bauen Spielgeräte aus demontierten Windrädern, aus alten Kabelrollen Fassadenverkleidungen oder aus überflüssig gewordenen Flüssigkeitstanks Toilettenhäuschen. Zwei davon stehen im Jugendzentrum Worm, das Superuse komplett mit Upcycling-Produkten eingerichtet hat.

Nur ein paar Hundert Meter entfernt bietet "Groos" (sprich: chroos) - Groos sagten sie in Holland früher für "Stolz" - die Werke einer Handvoll Künstler und Designer an. Etwa Sofakissen, die eine der Künstlerinnen mit alten Leuten strickt, damit diese sich nicht so allein fühlen, oder notizbuchkleine Kräutergärten für den Fenstersims. Socken gibt es, Spielzeug und Designerstühle - einzige Gemeinsamkeit der Artikel: Made in Rotterdam.

Weitere Informationen

Robert B. Fishman, srt/abl