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Kottbusser Tor in Berlin: Auf dem Weg zur Tabu-Zone

Foto: Sedat Mehder

Kottbusser Tor in Berlin Platz der Verdammten

Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg war Heimat für Migranten aus aller Welt. Nun entwickelt sich der Platz zur Tabu-Zone. Der Senat tut die Sorgen der Anwohner als "subjektives Empfinden" ab.

Die Dämmerung hat gerade eingesetzt, als Omar Abbad* aus einem Hauseingang auf den Platz vor dem Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg tritt. Aus der U-Bahn drängen Menschen nach draußen: Hipster in Röhrenjeans, Studenten mit Bierflasche in der Hand, Punks mit Hunden an der Leine.

Für Abbad beginnt jetzt die "Arbeit". Er geht auf zwei junge Frauen zu. "Comment ça va?", fragt er auf Französisch, "wie geht's?" Zwei Komplizen eilen herbei. Sie fassen den Frauen an die Hüfte, die Schulter, reden auf sie ein.

Kurz darauf sitzt Abbad auf den Treppenstufen vor dem Hauseingang, raucht, zählt Geld. Er und seine Kameraden, sagt er, hätten den beiden Passantinnen unbemerkt Geldbörse und Handy aus der Tasche gezogen. "Es ist ein Kinderspiel, am Kottbusser Tor reich zu werden."

Abbad ist 23 Jahre alt. Er hat seine Baseball-Kappe tief ins Gesicht gezogen, seine Wangen sind eingefallen, die Augen rot unterlaufen, sein Atem riecht nach Bier. Der junge Marokkaner ist in einem Slum in Casablanca aufgewachsen. Vor zweieinhalb Jahren floh er über das Mittelmeer nach Deutschland. Seinen Antrag auf Asyl lehnten die Behörden ab. Daraufhin, erzählt Abbad, habe er seinen Pass vernichtet und sei in Berlin untergetaucht. Nun gehört er zu den Banden, die in dem Kreuzberger Quartier stehlen, rauben, mitunter zuschlagen.

Stets dasselbe Muster

Das Kottbusser war nie ein ruhiger Ort. Dealer handelten auf dem Platz offen mit Drogen. Anwohner klagten über Einbrüche. Nun aber nimmt die Kriminalität ein neues Ausmaß an. Die Berliner Polizei registrierte im vergangenen Jahr 775 Taschendiebstähle am Kottbusser Tor, viermal so viele wie 2013. Die Zahl der Drogendelikte hat sich von 2014 auf 2015 verdoppelt. Journalisten berichten über den Platz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sah sich zur Klarstellung genötigt, in Berlin existierten keine "rechtsfreien Räume".

Junge Männer setzen sich zu Abbad auf die Treppe. Sie tragen Bart, Kapuzen-Pullover, Ringe an den Fingern. Einwanderer aus Marokko, Algerien, Tunesien stehen in Gruppen von bis zu 15 Personen am Kottbusser Tor verteilt, vor dem Wettbüro, dem Blumenstand, dem Spätkauf. Die Überfälle, erklärt Abbad, liefen stets nach demselben Muster ab: Ein bis zwei Männer lenkten das Opfer ab, ein dritter raube es aus.

Abbad hat in Marokko keine Zukunft für sich gesehen. Sein Lohn als Mechaniker reichte nicht, um die Miete zu bezahlen. Er entschied, es Freunden nachzutun und nach Europa zu gehen. Doch für Menschen aus dem Maghreb ist es beinahe unmöglich, legal als Arbeitsmigranten nach Europa zu gelangen. Also stieg Abbad in Libyen auf ein Boot von Schleppern nach Europa, wie viele seiner Landsleute.

"Das ist jetzt mein Job"

Abbad hat gehofft, in Deutschland Arbeit zu finden, eine Wohnung. Er wollte Geld nach Hause schicken an seine Eltern und die drei Geschwister. Nun schläft er bei Freunden, in Parks oder in Treppenhäusern. Bekannte schickten ihn zu einer der Banden am Kottbusser Tor: "Das ist jetzt mein Job."

Menschen wie Abbad stellen den Staat vor ein Problem: Zwar sind abgelehnte Asylbewerber laut Gesetz dazu gezwungen, Deutschland zu verlassen. Doch oft wehren sie sich gegen eine Abschiebung, indem sie ihre Reisedokumente vernichten, oder ihr Heimatland nimmt sie nicht zurück. Ohne Papiere und Rechte leben die Menschen dann in einer Schattenwelt, abgekoppelt von Gesellschaft und Wirtschaft.

Der Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu sieht morgens häufig die Spuren dieses Lebens in der Illegalität: leere Geldbörsen, Heroinspritzen, Blutspritzer. Vom Brückengeländer blickt er auf den Platz, auf die Hasch-Dealer, die Junkies, die jungen Leute auf dem Weg in die Clubs. Aus den türkischen Schnellimbissen zieht Dampf auf die Straße, die Neonreklame auf den Dächern der Spielhallen leuchtet, Polizeisirenen heulen.

Seit 30 Jahren wohnt Yasaroglu, 56, schon in dem Bezirk, in den besonders viele Einwanderer zogen. Er war 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei nach Deutschland geflohen. Das "Kotti", sagt er, sei für ihn, den ehemaligen Kommunisten, stets ein Ort der Hoffnung gewesen, trotz des Drogenhandels und der Junkie-Szene. Menschen aus vielen Ländern mit unterschiedlichsten Biografien lebten hier seit Jahrzehnten friedlich mit- oder zumindest nebeneinander. Nun aber kippe die Stimmung, werde feindselig.

"Neues Ausmaß an Aggressivität"

Mehrere Kreuzberger Unternehmer beklagten vergangenen Sommer in einem Brief an den Senat ein "neues Ausmaß an Aggressivität". Der Platz werde längst von "Kriminellen dominiert". Doch die Behörde von Innensenator Frank Henkel (CDU) tat die Schilderungen in einem Antwortschreiben als "subjektives Empfinden" ab. Inzwischen hat der Senat die Polizeipräsenz am Kottbusser Tor erhöht.

Yasaroglu betreibt selbst eine Kneipe, das "Café Kotti". Seit Monaten, erzählt er, blieben Gäste aus, vor allem Frauen würden den Kiez aus Angst vor Übergriffen meiden. Die Umsätze der Gewerbetreibenden seien zum Teil um die Hälfte eingebrochen. Yasaroglu hat bereits vor einem Jahr in einem Brief an den Senat vergeblich mehr Integrationsangebote gefordert. Bestünde das Problem in großbürgerlichen Vierteln wie Charlottenburg oder Grunewald, glaubt er, würden die Behörden es nicht ignorieren.

Die Bundesregierung hat als Reaktion auf die Übergriffe von Köln das Bleiberecht eingeschränkt: Ein Großteil der mutmaßlichen Täter, die bislang identifiziert werden konnten, waren Migranten aus dem Maghreb ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis.

Menschen ohne deutschen Pass, die straffällig werden, sollen nun schneller abgeschoben werden. Deutschland will Marokko, Tunesien und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären und drängt die Regierung in Rabat, Flüchtlinge zurückzunehmen. Doch die Kriminalität an Orten wie dem Kottbusser Tor oder dem Maghreb-Viertel in Düsseldorf dämmt die Regierung auf diese Weise nicht ein.

Eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts wird die Dealer und Diebe am Kottbusser Tor nicht abschrecken, glaubt auch Yasaroglu. Papierlose hätten nichts zu verlieren, sie würden sich Abschiebungen einfach entziehen. Der Staat solle lieber mehr Geld in Sozialarbeit investieren. Förderprogramme müssten in begrenztem Umfang auch für Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis geöffnet werden, sagt Yasaroglu: "Diese Menschen leben nun einmal unter uns, wir müssen irgendwie mit ihnen klarkommen."

*Name von der Redaktion geändert

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